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„Würde des Menschen“ – gibt es dafür Gründe?
06.07.22
„Würde des Menschen“ – gibt es dafür Gründe?
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland erklärt die Würde des Menschen für unantastbar. Sie ist höchstes Prinzip über allem anderen. Gibt es dafür eine rationale Begründung? Und: in der Realität wird die Würde ständig verletzt. Was sind die Ursachen?
Von grundsätzlicher Bedeutung ist die Frage, ob die Idee von der Würde des Menschen eine kulturelle Behauptung oder Norm ist, die man setzen kann oder auch nicht, ein kulturelles Spezifikum, was für die einen ein hohes Gut ist, für die anderen aber nur ein beiläufiger Wert, wenn überhaupt. Wenn die Würde universal unantastbar sein soll, sollte die Entwicklung zur Würde eines jeden Individuums der Spezies Mensch in der Dynamik der biologischen Evolution selbst zu finden sein. Im Folgenden möchte ich das Argument entwickeln, daß die Würde in der Evolution angelegt ist und entwickelt wird, und zwar aus folgenden Gründen:
Die biologische Entwicklung des Menschen gipfelt in der Komplexität des Gehirns. Dieses ist nicht nur durch die außergewöhnlich Quantität an Hirnsubstanz ein Spezifikum des homo sapiens, sondern vor allem durch die Vernetzungsfähigkeit und Synchronisierung unterschiedlicher Bereiche. Diese wiederum befähigt Menschen, eine komplexe Umwelt wahrzunehmen und kollektiv koordiniert zu agieren, um Gefahren abzuwenden und Möglichkeiten zum Besseren zu erproben. Das macht den unglaublichen evolutionären Erfolg des Menschen aus. Kreativität ist also gefragt, und die wiederum kann sich nur entwickeln im Abweichen vom Mainstream kollektiver Gewohnheiten. Folglich ist das spannungsvolle Zusammenspiel von individueller Abgrenzung und kollektiver Kooperation ein Grundbaustein des evolutionsbedingt entwickelten Aktionsmusters des Menschen. Die Dynamik beider ist das, was den Menschen zur biologischen wie auch zur kulturellen Entwicklung antreibt. Das Individuelle kann sich aber nur in über-individuellen Synthesen (Gemeinschaft) verwirklichen, und die Gemeinschaft ist abhängig von der systemisch funktionierenden Kooperation der Individuen. Das ist beim Zusammenspiel unterschiedlicher hirninterner Systeme der Fall, und es ist das Grundprinzip der bipolaren Anlage des Nervensystems, des Stoffwechsels, der kardiovaskulären Dynamik, des Atemsystems, des Immunsystems usw., aber eben auch der gesellschaftlichen Kooperation: Das Individuell-Besondere kann nur im Respekt, d.h. in der Wechseldynamik mit dem je Anderen, sein eigenes Potenzial einbringen; beide sind aufeinander angewiesen. Kulturell gesprochen: Das Ich verwirklicht sich in Abgrenzung von und im Zusammenspiel mit dem Du und umgekehrt. Genau darin besteht das Leben, das von Würde gekennzeichnet ist. Würde ist also kein Wert, den man zur Disposition stellen könnte, er ist vielmehr der basalen Dynamik der Lebensprozesse selbst geschuldet. Damit ist die Würde des Einzelnen wie des Zusammenwirkens der Einzelnen zum gemeinsamen Vorteil (common good) evolutionsbiologisch begründet.
Die Würde kommt jedem Menschen zu, unabhängig von seiner biologischen Geburt oder sozialem Status, auch unabhängig von seiner Leistung oder seines Bewußtseinszustandes. Als Mensch hat er diese Würde, sie ist nicht erworben und demzufolge kann er sie auch nicht verlieren. Anders gesagt: Der Mensch als Mensch besitzt Würde, und das heißt, daß er nie zum Objekt gemacht werden darf, er ist und bleibt – welche konkreten politischen oder wirtschaftlichen Verhältnisse auch immer gelten – Subjekt seiner Selbst-Gestaltung. Nicht erst Immanuel Kant (bzw. die Aufklärung überhaupt) hat das so gesehen, sondern bereits der Buddha mit seiner Lehre, daß alle Lebewesen (nicht nur Menschen) die Buddha-Natur haben bzw. sind, und auch die indische Philosophie des Advaita, wonach es Gott ist, der sich in jedem menschlichen Lebewesen als Kern der Person manifestiert. Oder Jesus bzw. Paulus, die von der Gotteskindschaft sprechen – „ihr seid nicht Knechte, sondern Kinder, also Erben“. In all dem spiegelt sich lange, durchaus leidvolle kulturelle Erfahrung des Gegenteils, eben der Versklavung und Unfreiheit, der Fremdbestimmung und Unterdrückung durch diejenigen, die Macht ausüben. Dagegen ist der Begriff der Würde ein Programm, oft auch ein Aufschrei. Aber wenn es konkret wird, ist auch hier Konflikt vorprogrammiert.
Der Mensch ist, wie alle anthropologischen und übrigens auch primatologischen Studien für die Dynamik von Primaten belegen, Individuum und Gesellschaftswesen zugleich. Hirnphysiologisch und hirnfunktional spricht man von einem Spaß-System einerseits, das individuelle schnelle Befriedigung, d.h. Ausgleich von Spannungen, anstrebt; und einem Bindungssystem andererseits, das langfristig Kooperation, emotionale Wärme und Fürsorge füreinander ermöglicht, d.h. die lange Phase der Sorge für den Nachwuchs bestimmt und Glück bereitet. Beide Systeme liegen räumlich im Hirn beieinander und beeinflussen einander wechselseitig, aber die jeweils damit verbundenen Interessen und Bedürfnisse stehen in Spannung zueinander. Aristoteles‘ zoon politikon, Senecas animal sociale oder der moderne Begriff des Gesellschaftswesens – die drei Begriffe sind durchaus nicht deckungsgleich – immer gibt es ein Ringen um die Balance zwischen den Gegensätzen, die allerdings umwelt- bzw. gesellschaftsabhängig ist. In Jägerkulturen mit bis zu 30 Mitgliedern in der Horde stellt sich die Frage völlig anders als in Zeiten der Seßhaftwerdung, der Hierarchisierung und Urbanisierung der Gesellschaft und vor allem dem Privatbesitz an Eigentum und entsprechenden Erbschaftsregeln, und noch einmal anders in den Megastädten des 21. Jahrhunderts mit 20-30 Millionen Einwohnern. Nicht nur der Organisationsgrad ist verschieden, auch die Kommunikationsregeln und sozialpsychologischen Muster werden kulturell verschieden ausgestaltet. Eben: die gesellschaftlichen Bedingungen unterliegen der kulturellen Gestaltung. Das hat auch mit Sprache und Klima (Bedingungen der Wohnarchitektur, Kälte oder Hitze, Jahreszeiten) zu tun, mit Eigentums- und Erbschaftsorganisation usw. Wir wissen, daß z.B. Ostasien, geprägt vom Konfuzianismus, dieses Verhältnis ganz anders bestimmt als Europa oder Indien, aber auch hier sind Stereotype eher Klischees als Empirie, denn die Bedingungen wandeln sich auch dort, und das Normative ist nie identisch mit der tatsächlich gelebten Realität. Der Mensch ist im Werden, die Evolution ist nicht abgeschlossen – weder biologisch noch kulturell. Daraus folgt die Verpflichtung zur erkennenden Verantwortung bzw. zu verantwortetem Erkennen. Weil dies mangelhaft ist, wird die Würde (noch) verletzt. Es bleibt eine Aufgabe der Erkenntnis; und aus der Erkenntnis sind Schlußfolgerungen für das Handeln zu ziehen, damit die Spezies nicht untergeht.