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Die goldene Brücke

26.04.2022

Nach Sonnenaufgang. Ins Wasser springen. Auf der Brücke der tief stehenden Sonne entgegen schwimmen. Gefühl von Freiheit. Wohin führt die Brücke? Wie weit? Ich weiß es nicht. Nur schwimmen. Immer weiter, getragen vom weichen Wasser. Es duftet würzig.

Doch es braucht Mut. Wie weit kann ich schwimmen? Wie lange trägt es mich? Ohne, dass ich ein Ziel habe… Die deutsch-jüdische Lyrikerin Hilde Domin (1909-2006) schreibt in einem Brief an ihren Bruder, nachdem sie eine Phase tiefster Trauer durchlitten hat: „Ich setzte den Fuß in die Luft, und sie trug.“ Auf der Luft gehen, auf dem Wasser laufen. Das scheint unmöglich; es ist so wenig gewiss wie ein glückvolles Leben. Doch: Sich anvertrauen wie der goldenen Brücke oder der Luft, die trägt. Das kann man lernen. Wie? Es beginnt damit, dass wir uns dem Atmen anvertrauen, aufmerksam, mit ihm mitschwingen – ein und aus und ein und aus. Immer weiter. Wir werden ruhig. Lassen das Leben in uns geschehen, ohne Verkrampfung und phantastische Erwartung. Allmählich spüren wir die Schönheit des Rhythmus. Dann hören wir den Atem. Dann hören wir das Plätschern der Wellen, das Krächzen der Möwen oder die Lieder der Vögel. Wir sehen das Glitzern der sacht gekräuselten Wellen und die Pracht der Frühlingsfarben. Und wir sehen auch in die faltigen Gesichter der Menschen im Herbst ihres Lebens – in ihnen spiegelt sich das Lebensschicksal mit allem auf und ab. Auch das ist schön. Denn die goldene Brücke ist und bleibt. Jeden Morgen neu. Und auch bei jedem Sonnenuntergang neu.

 

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