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Was soll denn jetzt nur werden ...?

08.05.22

Die Gesellschaft, in der wir leben, ist zerrissen. Nicht erst jetzt. Auch Europa ist zerrissen, und die ganze Welt ist betroffen. Der Krieg, den die russische Regierung begonnen hat, kann eskalieren mit bedrohlichen Folgen für die gesamte Menschheit. Er hat geopolitische Bedeutung. Die Gewalt, das Lügen, die brutale Menschenverachtung und das furchtbare Leid des Krieges erinnern nur noch wenige in Europa, die Zeugen des 2. Weltkriegs waren.

Auch wir agieren zerstörerisch und führen – im Kleinen wie im globalen Maßstab - „Kriege“: Im Internet tritt grenzenlose Gewalt zutage, verbal oder in Video-Spielen.

Täglich werden nicht nur einzelne Tiere oder Pflanzen, sondern ganze Arten ausgerottet. Die Folgen sind für jeden sichtbar. Immer mehr Menschen erkranken und sterben als Folge solcher Ignoranz und Aggression. Wir brauchen alle Ressourcen und Energien, auch viel Geld, um die notwendige Transformation unseres Lebensstils und damit auch der Ökopolitik zu bewältigen. Doch stattdessen stecken wir Milliarden in die militärische Hochrüstung. Wer aber ist „wir“? Keiner, den man fragt, natürlich. Und wenn doch, dann wird es mit der Notwendigkeit zur Verteidigung gegen machtgierige Aggressoren begründet – Vietnam ist kaum noch in Erinnerung, aber vielleicht Ruanda, Irak, Afghanistan, Syrien, Jemen usw. Investitionen in Waffen zur Verteidigung sind unumgänglich; doch wie kommt man zu vernünftiger Abwägung und Begrenzung? Eine Tragik ohnegleichen. Denn schließlich gibt es auch Profiteure der Hochrüstung, des Krieges und des Chaos und der Einschüchterung, und die sitzen keineswegs nur in Moskau.

Der Psychotherapeut Wolfgang Schmidbauer schreibt (auf einem Flyer zur Ankündigung eines Vortrags über die ökologische Transformation unter der Überschrift „Wende zum Weniger?“): „Was Menschen in Bewegung setzt, ist entweder die Verteidigung einer als bedroht erlebten Identität – oder die Hoffnung auf Eroberung und reiche Beute. Beide Motive können in den Dienst einer ökologischen Wende gestellt werden; ihr Gegenspieler ist die Verlustangst, in der die menschliche Fähigkeit zu Einsicht und Vorausschau ausgeschaltet und durch den Versuch ersetzt wird, sich blindlings an Bestehendes zu klammern.“

Diese Analyse der Motivation von Menschen trifft auch auf die gegenwärtige Kriegs-Situation zu. Menschen führen Kriege aus den genannten Gründen, und sie führen sie brutal. Wir hatten geglaubt, wir hätten aus der Geschichte gelernt!? Erschreckend sind die Kriegsrhetorik und die Verharmlosung eines möglichen „begrenzten“ Atomkriegs. Dabei werden immer seltener – zumindest in der Medienwelt – Argumente sachlich und nüchtern gegeneinander abgewogen, sondern die jeweils andere Position wird mit der „moralischen Keule“ erschlagen, und zwar von allen in den Krieg Verstrickten und ihren Unterstützern. Der Grund ist, daß die begründete moralische Entrüstung über das Vorgehen der russischen Regierung und ihrer Armee und die daraus folgenden emotionalen Reaktionen zum Standard des Handelns gemacht werden; an rationalen Erwägungen, die die Folgen unterschiedlicher Handlungsoptionen abwägen, mangelt es, und zwar nicht nur in den aufgeheizten Internet-Foren, sondern oft auch in den sogenannten Leitmedien. Die Gründe dafür sind bekannt.

Was tun wir eigentlich – offen und verdeckt -, um die Oppositionellen in Rußland zu unterstützen? Die gibt es. Sie brauchen die Gewißheit, daß sie nicht allein und nicht auf verlorenem Posten kämpfen! Es gibt Netzwerke der Wissenschaftler, der Künstler, der wirtschaftlichen Akteure, der Journalisten, die zu ihren russischen Partnern ebenso gute Kontakte unterhielten wie zu den ukrainischen. Das braucht volle Unterstützung. Eine pauschale Verurteilung „der“ Russen spielt nur dem russischen Diktator und Kriegsherrn in die Hände.

Gewiß: Der Angegriffene muß sich verteidigen, und er braucht dafür geeignete Hilfe. Humanitäre Hilfe ohnehin, und es ist ermutigend zu erleben, wie dies geschieht, gerade auch bei uns. Aber darüber hinaus auch militärische, doch was genau heißt das, wenn wir dazu beitragen wollen, die Aggression einzudämmen und womöglich zu stoppen? Es fällt auf, daß es in einigen wenigen Talkshows, in denen die Disputanden wirklich auch aufeinander hören und gegensätzliche Meinungen prüfen, ohne sie sogleich abzuqualifizieren, oft gerade auch die Militärs sind, die abgewogene Argumente ins Feld führen: Erstens, dass keiner den Krieg gewinnen kann, daß man also dafür sorgen müsse, daß die Kriegsziele beider Seiten klar bestimmt würden und dann ein Waffenstillstand ausgehandelt wird, so dass zumindest das sinnlose Töten und Zerstören aufhört. Zweitens müsse man irgendwann zu einem Kompromiss kommen, je früher desto besser. Den werde es nur geben, wenn sich beide Seiten nicht als Verlierer betrachten könnten. Drittens müsse sehr wohl zwischen Verteidigungs- und Angriffswaffen unterschieden werden, zumindest tendenziell, die allgemeine Unterscheidung von „leichten“ gegenüber „schweren“ Waffen genüge nicht. Auch das verbale Spielen mit dem Weltbrand, mit dem Abwägen der Wahrscheinlichkeit von atomarer, biologischer und chemischer Kriegführung dürfe es nicht geben, denn die Eskalation werde sonst geradezu heraufbeschworen. Argumente sind das, die zu überprüfen sind, rational und informiert, bitte auch auf historische Kenntnis gegründet! Die Eskalation der Gewalt ist kein neues Phänomen, weder in Russland, noch in China noch in den USA noch bei uns. Denn nehmen etwa Gewalt und Gewaltbereitschaft der Menschen in Europa ab? Oder in Zentralafrika oder Afghanistan oder Myanmar? Wo stehen wir? Was läuft hier prinzipiell falsch in der Entwicklung der Menschheit?

Sind wir endlich bereit diese Fragen zu stellen, vor allem auch an uns selbst zu stellen? Was sind die Hintergründe für das Entsetzliche? Oben hatten wir Identitäts- und Verlustängste als Ursachen von Aggression identifiziert, derer es wohl noch weitere gibt. Angesichts des unsäglichen Zerstörungspotentials, das wir geschaffen haben: Müssen wir nicht lernen, ganz anders mit unseren Identitäts- und Verlustängsten umzugehen?